Brexit – Weckruf für EU und ihre Mitglieder

Beitrag per E-Mail versenden

Als ehemaliges Mitglied im EU Wirtschafts- und Sozialausschuss über 25 Jahre bis 2006 und seit 2008 ehrenamtlich im Sozialverband Deutschland (SoVD) für die Sozialpolitik auch auf EU Ebene verantwortlich habe ich den Ausgang des Referendums in Großbritannien für den Brexit mit großem Erschrecken verfolgt. Gerade in den Bereichen von Sozialpolitik sowie Arbeits- und Sozialrecht waren die Verhandlungen mit Großbritannien immer besonders schwierig. Teilweise mussten Kompromisse akzeptiert werden, die sozialpolitische EU Richtlinien bis zur Bedeutungslosigkeit verwässerten, oder den Briten großzügige „Opt Out“ Regelungen zugestanden werden. Dies war erforderlich, um die Integration in der EU nicht zu gefährden.

Die Mehrheitsentscheidung der Menschen in Großbritannien für den Austritt aus der EU sowie mögliche Domino Effekte in anderen EU Ländern zeigen mit erschreckender Deutlichkeit, wie nahe die Gefährdung der EU gerückt ist. Dies ist ein unüberhörbarer Weckruf für alle Verantwortlichen in Mitgliedsländern, EU Kommission sowie dem Europäischen Parlament, den Kurs in der EU Politik  endlich herumzureißen. Dabei sind zunehmende Entfernung und Entfremdung zwischen der Führung in EU Kommission, EU Ministerräten und EU Parlament  einerseits und der Bevölkerungsmehrheit  andererseits anzugehen. Dazu sollen im Folgenden nur einige besonders prägnante Beispiele aus jüngerer Zeit aufgezeigt werden:

(1) Die Machtpolitik in „Hinterzimmern“ an den demokratischen Strukturen und Verfahren vorbei, wie bei den Verhandlungen zwischen der EU Kommission und Kanada zu CETA und in noch erheblich stärkerem Ausmaß mit den USA zu TTIP, ist zu beenden. Dies gilt gleichermaßen für die mangelnde Transparenz politischer Entscheidungen und Dominanz kleiner Führungskreise aus Mitgliedsregierungen und EU Kommission zu Lasten der großen Mehrheit der Bevölkerung, wie insbesondere zu den nicht endenden Finanzkrisen – allen voran in Griechenland -, den rigorosen Schuldenbremsen im EU Fiskalpakt und nicht zuletzt die ungelöste Flüchtlingskrise.

(2) Dringend zu stärken sind die Kommunen als wirtschaftliche und gesellschaftliche Lebensräume der Menschen in Europa. Nur dann kann das Spannungsverhältnis zwischen Europäischer Integration einerseits und dezentralen Lebensbereichen andererseits aufgelöst und die EU für die Menschen erfahrbare und gestaltungsfähige Perspektiven bieten.

(3) Eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine an den Interessen der Menschen ausgerichtete Europäische Integration ist  die ständige Information und Aufklärung auf europäischer und nationaler Ebene. Diese wesentliche Verantwortung in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Medien ist sträflich vernachlässigt worden. Die niedrige Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament sind hierfür ein erschreckender Ausdruck. Damit wurden und werden die Einfallstore für politische Demagogen weit geöffnet, die Grundwerte der EU und letztlich die demokratischen Strukturen auch in den Mitgliedsländern massiv gefährdet.

(4) Die EU wird nur eine Zukunft haben, wenn die Fehlentwicklungen von Zentralismus und Bürokratismus überwunden werden und die Interessen der über 500 Millionen Menschen  in den Mittelpunkt der EU Politik gestellt werden. Die Europäische Integration muss mit den Bürgern von „unten“ entwickelt und nicht von wenigen politischen Eliten von „oben“ übergestülpt werden. Keine Perspektive ist eine Konzentration auf ein Kerneuropa der wenigen gut entwickelten Gründernationen. Vielmehr sind die Menschen in allen Mitgliedsländern in ihren unterschiedlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dimensionen mitzunehmen. Hierzu müssen auch die Organisationen und Institutionen von Bürger- und Zivilgesellschaft einschließlich der Sozial- und Wohlfahrtsverbände an den europäischen Entscheidungsprozessen gleichberechtigt teilhaben.

(5) Weder dürfen die Türen der EU gegenüber Großbritannien zugeschlagen werden noch ein „Ablasshandel“ bei den Grundprinzipien der EU erfolgen. Dies gilt vor allem für eine Einschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die von den Brexitbefürwortern in den Mittelpunkt ihrer Kampagnen gestellt wurde. Das Schicksal von 850 000 Menschen aus Polen, die im Übrigen nach der EU Osterweiterung 2004 von Großbritannien sofort aufgenommen wurden, darf nicht zum Spielball der Verhandlungen um den weiteren Zugang zum Binnenmarkt missbraucht werden. Menschen, die im Vertrauen auf die Freizügigkeit in der EU ihre Heimatländer verlassen, müssen ein Anrecht auf verlässliche Arbeits- und Lebensbedingungen in den Aufnahmeländern haben. Dies darf in Großbritannien nicht in Frage gestellt werden. Mit den vor dem Referendum durchgesetzten Abstrichen bei den Sozialleistungen für EU Ausländer waren die Grenzen der sozialen Zuträglichkeit  bereits überschritten.

(6) Darüber hinaus muss die EU gerade jetzt beweisen, wie ernst es ihr mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und insbesondere der immer noch skandalös hohen Jugendarbeitslosigkeit ist. Der Brexit wird nicht nur in Großbritannien zu erheblichen wirtschaftlichen und finanziellen Wachstums- und Struktureinbrüchen mit steigender Arbeitslosigkeit führen. Auch Arbeitnehmer in anderen Mitgliedsländern, insbesondere Deutschland mit seinen hohen Finanz-, Wirtschafts- und Handelsverflechtungen werden betroffen sein. Eine wesentliche Verantwortung von EU Kommission und Mitgliedsregierungen wird sein, hierfür rechtzeitig wirksame Gegenmaßnahmen zu entwickeln und durchzusetzen.

Hinterlassen sie einen Kommentar

Pflichtfelder *


vier − = 2