Sozialstaat als Bürgerrecht

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Am 12. Dezember 2010 war ich im Hotel Chelsea in Köln zur einer Lesung meines Buches “Kämpfen mit Herz und Verstand” eingeladen. Das Hotel Chelsea eignete sich besonders gut für derartige Veranstaltungen: einmal hat es eine interessante Architektur mit verglasten Dachgeschossen; zum anderen befinden sich in dem Restaurant anregende Bilder von Kölner Künstlern. Zwei bis dreimal im Jahr führt der Eigentümer dieses Hotels Dr. Werner Peters politische Gespräche am Sonntagabend ab 20 Uhr durch. Er hat dazu ein Stammpublikum, das teilweise sogar aus Düsseldorf kommt. Zu dieser Buchlesung am Dritten Advent mit dem nachdenklichen Titel “Sozialstaat als Bürgerrecht” war ein kleiner aber sehr interessierter und diskussionsfreudiger Kreis erschienen.

Unser Grundgesetz enthält einen engen Zusammenhang zwischen Bürgerrechten und Sozialstaat.

Zum Bürgerrecht

Ein Bürgerrecht ist ein gesetzliches Recht, das ein Staat oder eine vergleichbare Einrichtung den Mitgliedern seines Staatsvolkes (seinen Bürgern) zugesteht. Bürgerrechte bilden zusammen mit den Menschenrechten die Grundrechte nach dem Grundgesetz. Damit besteht ein enger Bezug zwischen Bürgerrecht und Sozialstaat.

Zum Sozialstaat

Das in unserem Grundgesetz Art 20 Absatz 1 Satz 1 enthaltene Sozialstaatsgebot postuliert „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat“.

Damit sind  Gesetzgeber, Rechtsprechung und Verwaltung verpflichtet, nach sozialen Gesichtspunkten zu handeln.  Ebenfalls zu berücksichtigen ist hierbei der Artikel 14 GG: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“.

Konkrete Ausprägungen dieses  Sozialstaatsprinzips in unserer Gesellschaftsordnung sind die gesetzlichen sozialen Sicherungssysteme sowie das Arbeits- und Sozialrecht und ihre jeweiligen Institutionen und Akteure.

Wenn ich heute hierüber zu Ihnen sprechen möchte, kann ich dies nicht nur aus konzeptioneller Erkenntnis tun, sondern aus jahrzehntelanger praktisch-politischer Erfahrung an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Sozialen Sicherungssysteme – mithin als eine der Akteure an der Spitze unseres Sozialstaates.

Selbstverwaltung und Tarifpolitik -Kernelemente des Sozialstaates- im Wandel

Die gesetzliche solidarische Sozialversicherung für die Großen Risiken des Lebens sind in der Bundesrepublik Deutschland als Selbstverwaltungen organisiert, d.h. die  Arbeitgeber und Gewerkschaften haben als Vertreter der Beitragszahler entscheidende Verantwortung bei der inhaltlichen, organisatorischen und finanziellen Ausgestaltung zu übernehmen.

Damit üben sie Bürgerrechte aus -das Recht der Bürger auf einen sozialen Rechtsstaat- in diesem Fall auf die Gestaltung der Sozialen Sicherungssysteme

Ihre Legitimation erhalten sie durch Selbstverwaltungswahlen, die alle sechs Jahre durchgeführt werden. Dabei wählen die Arbeitnehmer ihre Vertreter für die grundsätzlich paritätisch aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammengesetzten Selbstverwaltungsgremien der verschiedenen Sozialen Sicherungssysteme. Entsprechend bestimmen die Arbeitgeber ihre Vertreter, die sie in die Selbstverwaltungsgremien entsenden.

Eine Ausnahme bilden Verwaltungsrat und Verwaltungsausschüsse als Beratungs- und Kontrollgremium bei der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die Vertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern werden von den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften entsandt. Darüber hinaus handelt es sich hierbei um eine drittelparitätische Besetzung unter Einbeziehung der Vertreter des Staates auf allen Ebenen.

Eine weitere Ausnahme bilden die Selbstverwaltungsgremien der Ersatzkassen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Hier gibt es keine Vertreter der Arbeitgeber in den Selbstverwaltungsgremien.

Diese herausgehobene Rolle der Selbstverwaltung hat sich über Jahrzehnte  als tragende Säule unseres Sozialstaates erwiesen. Bedeutsam dabei ist die ständige Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften in allen Fragen der Sozialen Sicherung.

Dies hat auch Zeiten schwergewichtiger Auseinandersetzungen -z.B.  Arbeitskämpfe- überstanden. Dies ist ebenfalls eine entscheidende Grundlage und Voraussetzung für die gemeinsame Verantwortung beider Tarifparteien für den Erhalt und die Zukunftsfähigkeit von Sozialstaat und Sozialer Sicherung gerade auch in Phasen großer Auseinandersetzungen und Konflikte.

Damit ist die Selbstverwaltung der Sozialen Sicherungssysteme die Ergänzung zur Tarifpolitik – mithin der Festsetzung von Löhnen und Arbeitsbedingungen. Beide Kernelemente unseres Sozialstaates haben sich in den 62 Jahren des Bestehens unseres Grundgesetzes bewährt.

In der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise haben sowohl die Tarifpolitik -durch die extensive Nutzung der Kurzarbeit- wie auch die Arbeitslosenversicherung maßgeblich dazu beigetragen, dass die starken Umsatz- und Wachstumseinbrüche schneller überwunden werden konnten als in anderen vergleichbaren Ländern.

Gerade vor dem Hintergrund der großen Herausforderungen bei der Bewältigung der Krisen in Europa und vor allem dem Euroraum kommt es darauf an, dass die gemeinsame Verantwortung der beiden Tarif- und Sozialparteien erhalten bleibt.

Zunehmende Bedeutung von Nichtregierungsorganisationen

Allerdings zeigt sich mit zunehmender Differenzierung der Interessen in der Gesellschaft, aber auch innerhalb der Arbeitnehmer selbst wie auch bei den Arbeitgebern: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben zwar die höchste, aber keine hinreichende Legitimation, die zunehmenden Probleme und Risiken in Wirtschaft und Gesellschaft zu vertreten.

In der Bundesrepublik hat sich in erschreckendem Tempo und Ausmaß eine Zweiklassengesellschaft entwickelt. Die sog. Mitte unserer Gesellschaft mit sicheren Arbeitsplätzen, guten Löhnen, Sozialer Sicherheit und Aufstiegschancen nimmt ab. Die Zahl der prekär Beschäftigten mit Niedriglöhnen bis zu Armut bei Arbeit steigt an.

Die Kernelemente unseres Sozialstaates -Tarifautonomie, Mitbestimmung, Selbstverwaltung, arbeitsrechtlicher Schutz, Soziale Sicherheit-  können für diese immer größer werdende Gruppe der benachteiligten Menschen auf dem Arbeitsmarkt kaum Hilfe und Schutz bieten. Für sie sind die „Privilegien“ des Sozialstaates eher Ungerechtigkeiten. Sie wenden sich ab und gehen in die Isolation oder suchen sich neue Interessenvertretungen – wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich.

In den letzten Jahrzehnten haben sich auf nationaler und globaler Ebene in zunehmendem Maße Nichtregierungsorganisationen gebildet, die mit mehr oder weniger Legitimation und Wirksamkeit Einzel- und Gruppeninteressen vertreten. Eine der bekanntesten für den Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist das unter dem Namen ATTAC bekannt gewordene Netzwerk auf globaler Ebene.

Differenzierung der politischen Parteien

Gravierend verändert haben sich auch die politischen Parteien. So ist es eine Folge der „Saturiertheit“ der sog. Volksparteien CDU/CSU und SPD sowie der zunehmenden Politikverdrossenheit immer größerer Teile der Bürger zuzuschreiben, dass sich kleinere Parteien in den Vordergrund arbeiten können.

Zunächst waren es „Die Grünen“ mit der Umweltproblematik – bis heute weit entfernt von einer befriedigenden Lösung auf nationaler und weltweiter Ebene, aber immer stärker in den Focus des gesellschaftlichen und politischen Engagements der Bürger gerückt. Inzwischen haben es die „Grünen“ verstanden, sich in einem breiten Feld der Wirtschafts-, Umwelt- und Gesellschaftspolitik zu profilieren und dafür die Anerkennung der Bürger und Wähler erhalten.

Die Gründung der Partei „Die Linke“ ist der mangelnden Lösungskompetenz der SPD bei Arbeit und Sozialer Gerechtigkeit geschuldet – zunächst in der ehemaligen DDR und inzwischen zunehmend auch in den Alten Bundesländern.

Aushöhlung des Sozialstaates

Mir war es bereits im Studium der Volkswirtschaftslehre ein besonderes Anliegen, Arbeitnehmer nicht nur als Produktivkräfte und Kostenfaktoren zu sehen und zu bewerten, sondern als Menschen mit vielfältigen Interessen. Dies war immer die Grundlage für meine wissenschaftlichen wie praktisch-politischen Arbeiten während meines gesamten beruflichen und politischen Lebens. Dabei habe ich verschiedene wirtschaftliche und soziale Phasen nicht nur „durchlebt“ und „durchlitten“, sondern auch mitgestalten können.

(1) Angesichts der wirtschaftlichen Probleme durch nachlassendes Wirtschaftswachstums seit dem Ende der 1970er Jahre, der fortschreitenden Globalisierung, der ausufernden Staatsverschuldung sowie der ansteigenden Arbeitslosigkeit und nicht zuletzt dem Fall des realen Sozialismus Ende der 1980er Jahre wurden diese Prinzipien des Sozialstaats immer mehr in die gesellschaftliche und politische Schmuddelecke gestellt. Der Sozialstaat und insbesondere die solidarischen Sozialversicherungssysteme wurden zu den Verursachern der steigenden Massenarbeitslosigkeit abgestempelt.

(2) Nach dem unerwarteten Glücksfall der Deutschen Einheit gab es zunächst eine mehrjährige Ruhepause: Mit Hilfe der sozialstaatlichen Leistungen, die weitestgehend von West nach Ost und damit auf Gesamtdeutschland übertragen wurden, konnte dieses einmalige historische Ereignis trotz massiver Strukturumbrüche und Vernichtung von Arbeitsplätzen friedlich bewältigt werden. Als dann auch im Westen die Arbeitslosigkeit erheblich anstieg und die öffentlichen Schuldenberge wuchsen, wurden Sozialstaat und soziale Sicherung immer mehr zu Schuldigen für die Wirtschafts- und Beschäftigungskrise abgestempelt.

(3) Es folgten ab Mitte der 1990er Jahre massive Einschnitte in das soziale Netz durch die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl sowie danach die rot-grüne Bundesregierung mit Bundesskanzler Gerhard Schröder. Höhepunkte waren die Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zur Endzeit der Regierung Kohl sowie die Riester-Rentenreform und Hartz IV unter der Regierung Schröder. Dies waren gravierende Paradigmenwechsel des Prinzips von Solidarität und Sozialstaat.

Wieweit sie dazu beigetragen haben, in der konjunkturellen Aufschwungphase 2006 bis 2008 die Beschäftigung zu verbessern und die Arbeitslosigkeit abzubauen, wird die Geschichte beweisen.

Was jedoch bereits jetzt klar zu Tage tritt, ist die Durchlöcherung des Prinzips der Solidarität auf dem Arbeitsmarkt und bei der Sozialen Sicherung: Unstrittig ist die explosionsartige Zunahme von Niedriglöhnen, prekärer Beschäftigung, Armut bei Arbeit und im Alter.

Selbst namhafte internationale Institutionen wie die OECD, die EU und die ILO weisen immer wieder darauf hin, dass die Bundesrepublik hierbei inzwischen am unteren Ende der europäischen und weltweiten Vergleiche steht und diese Spirale nach unten in kürzester Zeit stattgefunden hat.

Diese soziale Spaltung unserer Gesellschaft wird weiter verschärft durch die weltweite Finanz- und Wirtschaftkrise, die wir bislang dank unserer Sozialen Sicherungssysteme sowie  des sozial- und arbeitsrechtlichen Schutzes trotz seiner jahrelangen Durchlöcherung immer noch erheblich besser bewältigen konnten als viele andere vergleichbare Länder.

Finanz- und Wirtschaftskrise: Wertekrise

Mein Buch über fast vier Jahrzehnte Einsatz für die Gewerkschaften und  ihre Sozialpolitik hätte daher zu keinem geeigneteren Zeitpunkt kommen können.

Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise führt uns mit aller Deutlichkeit vor Augen: Es geht schon längst nicht mehr um einen „Betriebsunfall“ eines übersteigerten Finanzkapitalismus, der durch Reparaturen wieder behoben werden kann.

Es geht vielmehr darum:

- ob die Kräfte der Selbstzerstörung im Kapitalismus aufgehalten werden können und eine grundsätzliche Umsteuerung zu seiner sozialen Gestaltung gelingen kann

- ob es mithin gelingt, wieder zur Sozialen Marktwirtschaft zurückzukehren – natürlich unter den veränderten Rahmenbedingungen von Globalisierung, Technischer Entwicklung, Demographie und Veränderungen von Interessen der Menschen und ihrer Lebensformen

Es geht vor allem aber auch um die Zukunftsfähigkeit der Demokratie als Staats- und Gesellschaftssystem. Nur auf sozialen Fundamenten kann die Demokratie ihren maßgeblichen Wertmaßstab -die Achtung der Würde des Menschen- verwirklichen. Die derzeitige Krise ist daher auch und in erster Linie eine Wertekrise in unserer Gesellschaft.

Noch nie hat sich eine Finanzelite so maßlos bereichert und mit ihren auf kurzfristigen Profitstreben beruhenden Entscheidungen ein ganzes System zum Wanken gebracht.

Noch nie wurden dadurch so hohe Vermögenswerte vernichtet.

Noch nie mussten Staaten als Retter in der Not für ihre Finanzsektoren derart unvorstellbar hohe Kreditgarantien übernehmen und Kapitalhilfen leisten.

Und noch nie ist die Notwendigkeit einer wirksamen Re-Regulierung der nationalen wie internationalen Finanzmärkte und Finanzsysteme so deutlich zu Tage getreten. Hunderte von Millionen Menschen in allen Teilen der Welt werden über Jahre und Jahrzehnte am eigenen Leibe erfahren müssen, was es heißt: Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten.

Politiker und Regierungen auf nationaler, europäischer wie internationaler Ebene sind mehr als je zuvor gefordert, einen Absturz der Weltwirtschaft und einen Rückfall in Protektionismus und Nationalismus zu bekämpfen. Dazu müssen sie nicht nur Rettungsschirme für marode Banken und Not leidende Wirtschaftskonzerne bereitstellen. Sie müssen auch den Schutzschirm für auskömmliche Arbeit und die soziale Sicherheit ausreichend weit aufspannen.

Und vor allem: Sie müssen die Finanzwirtschaft unter wirksame Regeln und Kontrollen stellen, um derartige verantwortungslose Spekulationsdesaster zu verhindern.

Finanzkrise setzt sich in Europa fort

In der Bundesrepublik  ist die Krise zwar schneller eingegrenzt als zunächst befürchtet werden musste. Allerdings drohen nach wie vor erhebliche Gefahren:

- Zu der unabdingbaren Regulierung der Finanz- und Kapitalmärkte auf nationaler, europäischer und weltweiter Ebene gibt es bislang nur erste zaghafte Ansätze.

-  Die in der Bundesrepublik vor allem vom Export getragene Erholung  der Konjunktur kann leicht wieder kippen.

- Die gravierenden Finanzprobleme der überschuldeten Mitgliedsländer des Euro

- Griechenland, Irland, Spanien und Portugal- sind keinesfalls gelöst und können auch andere EU Mitgliedsländer einschließlich Deutschland erneut in den Finanzstrudel nach unten ziehen.

Gravierende Schieflage des deutschen Finanzsystems

Erst kürzlich hat der für Wettbewerbspolitik,  zuständige Kommissar in der Europäischen Union (EU) -Joaquin Almunia- das ungeheuerliche Ausmaß der finanziellen Belastung in Deutschland und in der EU insgesamt deutlich gemacht:

Die deutschen Steuerzahler haften mit 615 Mrd. Euro an Garantien und Kapitalspritzen für den deutschen Bankensektor, dabei vor allem die öffentlichen Banken.

Dies entspricht in etwa dem Betrag, der in der Bundesrepublik zwischen 2000 und 2008 -also bis zum Beginn der weltweiten Finanzkrise – mehr gespart als investiert wurde.

Das sind 26 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die in diesen Jahren den internationalen Finanzmärkten zu Verfügung gestellt wurden.

Die deutschen Steuerzahler haben somit nicht nur ertragen müssen, dass ein großer Teil ihrer Nettoersparnisse auf den internationalen Finanzmärkten buchstäblich verbrannt wurden. Jetzt müssen sie auch noch die finanzielle Haftung für die in Not geratenen Finanzinstitute in ähnlich gigantischem Ausmaß übernehmen.

Insgesamt beläuft sich die Summe aller Bürgschaften in der EU auf 3,6 Billionen Euro – mithin 25 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts, wovon bisher knapp die Hälfte in Anspruch genommen wurde.

Soziale Schieflage der Haushaltspolitik

Eine weitere Fortsetzung findet diese ungerechte Verteilung von Ent- und Belastungen in der Haushalts- und Kürzungspolitik der Bundesregierung.

Mit dem Stabilitätspakt der Europäischen Währungsunion -vor allem Senkung der Nettoneuverschuldung auf höchstens 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukt- sowie mit der Schuldenbremse im Grundgesetz im Rücken, hat die Bundesregierung die Kürzung ihrer öffentlichen Ausgaben um die Rekordsumme von 80 Mrd. Euro bis zum Jahr 2014 beschlossen.

Allein 30 Mrd. davon werden bei den Sozialausgaben zu Lasten von Arbeitslosen, Hartz IV Empfängern, Familien, Alleinerziehenden und Kindern gestrichen.

Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Neufassung problemgerechter Regelsätze für Erwachsene und Kinder in Hartz IV wird auf ein schon beinahe unanständiges Mini-Reförmchen beschränkt.

Die vorgesehenen Einsparungen für die Wirtschaft -im Verkehrs- und Energiesektor- entpuppen sich immer mehr als Tricksereien und Luftbuchungen

Schnellstraße“ in  den sozialen Abstieg verhindern

Wenn Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) frohlockt, die Bundesrepublik  entwickele sich wirtschaftlich zum „Musterknaben“, und befinde sich auf der „Schnellstraße“ zur Vollbeschäftigung, muss das für die etwa 7 Mio. Arbeitnehmer/innen in Niedriglohnsektoren und die ebenfalls etwa 7 Mio. Hartz IV-Empfänger wie Hohn klingen. Für sie ist dies die Schnellstraße in den sozialen Abstieg.

Für die Gesellschaft insgesamt setzt sich trotz unerwartet guter konjunktureller Erholung die Spaltung fort. Dabei nimmt die Zahl der Menschen am unteren Ende der sozialen Skala dramatisch zu. Auch die sog. Mitte der Gesellschaft schrumpft – leider nicht durch sozialen Aufstieg, sondern durch Abstieg auf der Treppe nach unten.

Die regierungsamtliche Bejubelung der wirtschaftlichen Erholung wird kaum dazu beitragen, die zunehmenden Ängste in der Mitte der Bevölkerung vor dem eigenen und/oder dem sozialen Abstieg ihrer Kinder und Enkel zu verringern.

Bürgerrecht auf Politikwechsel

Erforderlich ist ein erneuter Paradigmenwechsel in der Politik: zu existenzsichernden Mindestlöhnen;  Zukunftsfähigkeit der solidarischen Sozialversicherungssysteme auf breiter Basis; gerechte Verteilung der Steuern; Ausbau der sozialen Infrastruktur bei Betreuung, Erziehung, Bildung sowie der ökologische und soziale Umbau unserer Wirtschaft und Gesellschaft; Beseitigung von Diskriminierungen aller Art.

Es ist das Bürgerrecht der Menschen in Deutschland, für den Erhalt und die Zukunft des im Grundgesetz postulierten Sozialstaates ein- und aufzustehen. Jeder und jede sind aufgerufen, dazu ihren Beitrag zu leisten – im privaten Umfeld sowie im Rahmen kollektiver Organisationsformen.

Die nachhaltigen Proteste vieler Bürger gegen „Stuttgart 21“ haben hierzu Beispiele gegeben. Möglicherweise werden sie sich „verlaufen“, da sie vor allem als „Gegenbewegungen“ auftreten und für die Bürger zu wenig deutlich wird, worin realistische Alternativen bestehen, für die es sich lohnt, auch nach dem „geschickten“ Schlichterspruch von Heiner Geissler weiter zu kämpfen.

Ein prägnantes Beispiel ist die vom DGB mit Kirchen und Sozialverbänden organisierte große Protestkundgebung  im Juni 1995 gegen den Sozialabbau der Regierung Helmut Kohl. Damals haben 360 000 Bürger -darunter viele Arbeitnehmer und ihre Familien- in Bonn deutlich gemacht, dass sie für den Wechsel zu einer gerechten Wirtschafts- und Sozialpolitik ein- und aufstehen.

Zwei Jahre später hat es dann tatsächlich den politischen Wechsel zu einer rot-grünen Bundesregierung und Bundeskanzler Gerhard Schröder gegeben. Bleibt allerdings zu fragen, wie tief die Enttäuschung der Bürger geht, dass die Hoffnung auf Soziale Gerechtigkeit von Rot-Grün nicht eingelöst werden konnte.

Wenn wir hier über Bürgerrechte sprechen, muss auf die Montagsdemonstrationen in der ehemaligen DDR -vor allem in Leipzig- verwiesen werden. Damals haben es die Bürger in der ehemaligen DDR vermocht, unter Einsatz ihrer Sicherheit und ihres Lebens für die Sprengung der unmenschlichen Mauer zwischen West und Ost mit Erfolg zu kämpfen. Dabei ging es nicht nur um den Sozialstaat, sondern in erster Linie um die Befreiung von der kommunistischen Diktatur. Ohne die damalige breite und nachhaltige Bewegung der Bürger wäre diese „unblutige Revolution“ nicht möglich gewesen. Können sich solche „Sternstunden“ der Geschichte wiederholen?

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