Hartz IV nach fünf Jahren am Scheideweg: Grundlegende Korrektur oder wahltaktische Kosmetik?

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Die  zentrale Botschaft zum fünften Jahrestages von Hartz IV lautet: die Politik wäre gut beraten, wenn sie statt neue Wahlgeschenke anzukündigen, sich ernsthaft um das Fördern und die berufliche Eingliederung der arbeitslosen Menschen in Existenz sichernde Arbeit bekümmern würde.

Die  zentrale Botschaft zum fünften Jahrestages von Hartz IV lautet: die Politik wäre gut beraten, wenn sie statt neue Wahlgeschenke anzukündigen, sich ernsthaft um das Fördern und die berufliche Eingliederung der arbeitslosen Menschen in Existenz sichernde Arbeit bekümmern würde.

Die politische und mediale Gemengelage zur Korrektur von Hartz IV wird immer lauter und unübersichtlicher, je näher der Termin für die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen rückt.

Zum fünften Jahrestag dieses Paradigmenwechsels im deutschen Sozialstaat war zunächst der mehrstimmige Bewertungschor aus der Wissenschaft zu hören – in der bekannten Schlachtordnung: von der Belobigung für das Beschäftigungswunder am deutschen Arbeitsmarkt während des wirtschaftlichen Booms und auch in der Krisenphase. Dabei sind die lautesten Töne von Professor Dr. Klaus F. Zimmermann zu hören, Leiter des einst renommierten und jetzt in die negativen Schlagzeilen geratenen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung(DIW) sowie des 1998 mit Beginn der rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder neu geschaffenen Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn. Dabei war Zimmermann immer schon ein besonders vehementer Protagonist der Schröder‘schen Agenda Politik. Seine fast tägliche Belobigung der Hartz Gesetze sind noch in guter Erinnerung. Inzwischen macht der besonders medienwirksame Agenda-Professor allerdings Schlagzeilen wegen seiner Auseinandersetzungen mit dem Bundesrechnungshof und der Berliner Finanzverwaltung wegen fragwürdiger Ausgaben, einschließlich der hohen Kosten einer Washingtoner Dependance. Am anderen Ende des wissenschaftlichen Meinungsspektrums steht das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen mit seinen deutlichen Warnungen über den explosionsartigen Anstieg von Niedriglohnsektoren und Armut bei Arbeit. Nicht zu vergessen ist, dass die wissenschaftliche Begleitung immanenter Teil des  Paradigmenwechsels in der Arbeitsmarktpolitik zu Hartz war und dafür massive öffentliche Fördermittel eingesetzt wurden.

Jetzt  ist die Politik am Zuge: Nach eher vorsichtigen Tönen von Bundespolitikern der vorherigen Großkoalition kommen jetzt die Rufe nach grundsätzlicher Revision vor allem von der Spitze der Landesregierung Nordrhein-Westfalen aus CDU und FDP mit deutlicher Unterstützung der Bundesarbeitsministerin: So – als ob die CDU  nicht vor fünf Jahren mit von der Partei gewesen wäre, die ursprünglichen Vorschläge  der Hartz Kommission im Vermittlungsverfahren des Bundesrates erheblich zu verschärfen.

Dabei muss Bundeskanzlerin Angela Merkel neidlos zugestanden werden: Sie hat es meisterhaft geschafft, den Schwarzen Peter für die missglückten Teile der Hartz Gesetze im Lager der SPD zu deponieren. Die deutliche Verbesserung der Beschäftigung und entsprechend der Rückgang der Arbeitslosigkeit in der wirtschaftlichen Boomphase sowie die auch internationale viel bestaunte und teilweise übernommene Bewältigung der Beschäftigungskrise hat sich die Bundeskanzlerin gekonnt selbst auf die Fahnen geschrieben. Genauso ungeniert hat ihr Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers jetzt zugeschlagen und den Hartz IV Landtagswahlkampf in NRW eingeläutet – Höhere ALG II Zahlungen für diejenigen, die vorher lange  gearbeitet und Beiträge sowie Steuern gezahlt haben; höhere Zuschläge für Kinder in Hartz IV Bedarfsgemeinschaften; höhere Zuverdienstmöglichkeiten für erwerbsfähige Hartz IV Empfänger und höhere Freibeträge bei der Anrechnung von Vermögen zur Alterssicherung.

Fragt sich nur, warum sich Jürgen  Rüttgers nicht bereits früher für diese berechtigten und von den Gewerkschaften sowie Sozialverbänden immer wieder geforderten Korrekturen ein- und durchgesetzt hat. Zu vermissen ist vor allem sein politischer Einsatz für die Durchsetzung von tariflichen und gesetzlichen Mindestlöhnen, um den Durchmarsch in den Niedriglohnsektor aufzuhalten. Allerdings muss ihm gerechterweise zugutegehalten werden, dass er bereits vor Jahren als erster CDU-Ministerpräsident  die verheerenden Auswirkungen von Hartz IV im Verbund mit der drastischen Verkürzung von ALGI  politisch aufgegriffen hat. Unabhängig von jedweder politischen Motivforschung ist ihm jedenfalls nicht abzusprechen, dass er politischer „Spiritus Rektor“ für eine moderate Verlängerung von ALG I für ältere Arbeitnehmer war. Durchgesetzt wurde sie allerdings erst in der Großen Regierungskoalition in der Verantwortung des SPD Bundesarbeitsministers  Olaf Scholz.

Jetzt bleibt abzuwarten, was er von seinen Vorstellungen in der schwarz-gelben Regierungskoalition tatsächlich umsetzen kann. Dabei dürfte er sich bei den Forderungen leicht tun, die bereits von der Regierungskoalition beschlossen sind: Die Erhöhung der Zuverdienstgrenzen sowie der Freibeträge beim Vermögen für die Alterssicherung.  Erhebliche Probleme zeichnen sich ab, geeignete  Regelungen  für die Erhöhung der Zuverdienstgrenzen zu finden,  ohne die Zahl der Hartz IV Empfänger weiter zu erhöhen und den Abstand zu den gering verdienenden Erwerbstätigen zu verringern. Die Überlegungen, die Anrechnungsfreiheit erst ab einer Einkommensgrenze von 200 Euro zu beginnen, scheinen hierbei einen sinnvollen Weg zu weisen. Ansonsten wird es dabei bleiben, dass ALGII Empfänger in der Armutsfalle gefangen sind und kaum herauskommen können.

 Die Verbesserung der Kinderzuschläge wird in Kürze wegen des zu erwartenden Urteils des Bundesverfassungsgerichtes sowieso erforderlich werden. Die schwarz-gelbe Bundesregierung wäre gut beraten, nicht auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu warten. Seit Mitte des vergangenen Jahres liegt das diesbezügliche Urteil des Bundessozialgerichtes vor. Danach müssen die Kinderzuschläge, die bislang als prozentualer Anteil der Leistungen für Erwachsene berechnet werden, auf eine Bedarfs- und kindergerechte  Bewertung umgestellt werden. Nach Untersuchungen im Auftrag des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes würde dies bedeuten, dass erheblich höhere Leistungen zu zahlen wären. Auch dürfte in gleicher Richtung das ebenfalls anhängige Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Höhe und Struktur der Grundsicherung für die Bundesregierung neues Handeln erfordern.

Die FDP in NRW setzt sich mit an die Spitze der Bewegung und will den selbst für Experten schwer durchschaubaren Dschungel von ALG II und damit verbundener Transferleistungen in ein einheitliches Bürgergeld umwandeln. Oberflächlich betrachtet ist dies in seiner Simplizität so einleuchtend wie der propagierte  Stufentarif im Steuersystem auf einem Bierdeckel – aber deshalb nicht praktikabel, geschweige denn wirtschaftlich und sozial vertretbar. Bleibt nur zu hoffen, dass sich die FDP Propaganda des einheitlichen Bürgergeldes nach den Nordrhein-Westfalen Wahlen bald wieder verflüchtigt.

Was bei dem vielstimmigen Chor der Hartz- Korrekturen fehlt, ist jedoch ein Paradigmenwechsel von Hartz IV zu mehr Förderung und nachhaltige Eingliederung in Arbeit. Dies ist eine der größten Schwachstellen von Hartz IV und lässt das als große Sozialreform propagierte Agenda-Projekt fiskalisch   immer mehr zu einem Fass ohne Boden werden.  Mit einem Jahresbudget, das bereits an die 50 Mrd. Euro heranreicht. Dazu gehört zuallererst  eine umgehende Lösung für die Organisationsform der Job Center nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Dezember 2007. Hierbei ist das Kunststück zu vollbringen, die jeweilige eigenständige Verantwortung von Arbeitsagenturen und Kommunen sicher zu stellen und andererseits ihre Zusammenarbeit bei der Betreuung und beruflichen Eingliederung der Hartz IV Empfänger zu gewährleisten. Dies ist eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür, dass der Grundsatz und damit auch die Rechtfertigung von Hartz IV „Fordern und Fördern“ überhaupt umgesetzt werden kann, ohne dass die 7 Millionen betroffenen Menschen wie auch die etwa 50 000  Mitarbeiter in den Job Centern im Dschungel der Bürokratie hin und hergeschoben werden.

 Genauso wichtig ist der Ersatz der  gesetzlich und politisch explosionsartig ausgeweiteten  Ein-Euro-Jobs durch öffentliche Beschäftigungsprojekte mit existenzsichernden Löhnen und ausreichender sozialer Sicherung. Nach wie vor ist das kurzfristige Abdrängen Langzeitarbeitsloser in derartige öffentliche Tätigkeiten zumeist ohne Zukunftsperspektive der „Renner“ unter den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für ALG II-Empfänger. Sie sind für die Jobcenter sowie die Träger der Maßnahmen besonders kostengünstig. Für die betroffenen Menschen haben sie den großen Nachteil, dass sie nicht aus der ALG II-Falle entkommen und zumeist nach einem halben Jahr wieder vor den Türen der Jobcenter stehen.

 Zu verbessern ist auch die praktische Umsetzung der Qualifizierung als wesentliche Voraussetzung für die berufliche Eingliederung. Während bisher Langzeitarbeitslose vor allem in kurzfristige Trainingsmaßnahmen eingegliedert wurden, wäre die Stärkung mittel- und längerfristiger Qualifizierungsmaßnahmen dringend notwendig. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat erst kürzlich dargestellt, dass umfassender berufliche Qualifizierungsmaßnahmen auch nachhaltigere Eingliederungserfolge haben und sich damit durchaus rechnen. Hier ist gerade in der Bundesrepublik noch viel Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit auf beiden Seiten zu leisten – bei den Arbeitgebern wie den Arbeitnehmern: Lebenslanges Lernen muss  zu einem selbstverständlichen Anliegen auch in mittleren und kleinen Betrieben sowie für Arbeitnehmer aller Altersstufen und sonstiger persönlicher Merkmale werden.

Gerade hat uns der Fall Schlecker und die Leiharbeit mit aller Brutalität  erneut vor Augen geführt, welche Missbräuche zu Lasten der Arbeitnehmer durch die gesetzliche Schleusenöffnung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes im Zuge des Hartz Paradigmenwechsels 2003 ermöglicht wurden. Hier müssen auch gesetzlich schleunigst die Scheunentore für die  Leiharbeitsagenturen geschlossen werden. Unerlässlich sind die gesetzliche Verankerung des Prinzips „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ sowie die Verpflichtung der Leiharbeitgeber, ihrer arbeitsrechtlichen Verantwortlichkeit als Arbeitgeber nachkommen zu müssen.

Nicht viel besser steht es um die gesetzlich ebenfalls unter dem Markenzeichen Hartz  hervorgerufene Explosion der geringfügigen Beschäftigung. Zwei Drittel dieser Minijobber sind Frauen, viele sind Langzeitarbeitslose und ältere Arbeitnehmer/innen. Betroffen sind schon längst nicht mehr nur gering qualifizierte Tätigkeiten, sondern diese prekäre Beschäftigung geht inzwischen bis in den akademischen Bereich. Nur wenige kommen aus dieser Armutsfalle wieder heraus. Der Anteil an Vollzeitbeschäftigung in Deutschland ist einer neuen Internationalen Studie der Bertelsmann Stiftung zufolge inzwischen auf 60 Prozent gesunken. Das sogenannte Jobwunder der vergangenen Boomperiode hat eine bittere Kehrseite: der Rückgang von Arbeitsvolumen und natürlich entsprechend auch der Entlohnung. Dies hat sich in der Krisenphase verschärft durch die starke Ausweitung der Kurzarbeit fortgesetzt. Zwar konnten hierdurch Entlassungen und Arbeitslosigkeit verhindert werden. Gleichzeitig sind  jedoch die Löhne erheblich gesunken. Auch hier besteht dringender gesetzlicher Nachbesserungsbedarf: die geringfügige Teilzeitarbeit muss drastisch eingeschränkt werden. Es gibt überhaupt keine Rechtfertigung dafür, dass inzwischen 7 Mio. Menschen in Deutschland in derartige Hungerjobs abgedrängt werden.

Bleibt zu hoffen, dass die derzeitige politische Diskussion der ganz Großen Koalition der politischen Parteien einen erneuten Paradigmenwechsel schafft und endlich die Eingliederung in Existenz sichernde Arbeit in den Mittelpunkt der zukünftigen Arbeitsmarktpolitik gestellt wird. Vielleicht helfen dabei nicht nur die Landtagswahlen von Nordrhein-Westfalen, sondern auch die Demographie: Wir können es uns in Zukunft noch weniger leisten, auf die Qualifikationen von Millionen Menschen in unserem Lande zu verzichten.

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