Bayrische Willkommenskultur

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Während in der Bundesrepublik Demographie und Fachkräftemangel beklagt und eine „Willkommenskultur“ angemahnt werden, übt sich Horst Seehofer, CSU Ministerpräsident von Bayern, wieder einmal in dem Geschäft des demagogischen Stammtisches: „Wer betrügt, der fliegt“, ist das jüngste Schlagwort der CSU. Gemeint sind allerdings weder die hinterzogenen Steuermillionen von Fußballstar Ulli Hoeneß noch Spitzenpolitiker der CSU, die über Jahrzehnte Familienmitglieder auf Kosten der bayrischen Steuerzahler komfortabel unterhalten haben. Vielmehr geht es um die Menschen in Bulgarien und Rumänien. Denn für sie gilt ab Anfang des Jahres die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Und völlig unbeeindruckt von den Tatsachen wird einfach behauptet: Rumänen und Bulgaren, teilweise behaftet mit dem Menetekel der auch in ihren Ländern diskriminierten Roma, würden massenweise in die Bundesrepublik strömen, um die Sozialkassen zu plündern.

Zu allem Überfluss wurde gerade eine Stellungnahme der EU Kommission bekannt: Darin verweist sie darauf, dass die deutsche Gesetzgebung zur Untersagung von Hartz IV für EU Zuwanderer, die in der Bundesrepublik Arbeit suchen, gegen EU Recht verstoße. Erforderlich sei in diesen Fällen die Einzelfallprüfung und nicht zulässig die pauschale Untersagung dieser untersten Stufe der Existenzsicherung. Dabei ficht es die CSU Stammtisch-Demagogen überhaupt nicht an: Viele der gerade aus Bulgarien und Rumänien zuwandernden Arbeitnehmer sind die in der Bundesrepublik händeringend gesuchten Fachkräfte im Gesundheitsbereich. Und in ihren Heimatländern droht ein „Ausverkauf“ ihrer mit hohen eigenen Kosten finanzierten Ausbildung.

Die tatsächlichen Probleme der Verhinderung illegaler Einschleusung von Arbeitskräften auf den schwarzen und grauen Märkten des Bauwesens, der Schlachter sowie anderer ähnlicher Handwerksberufe, der gering qualifizierten Gaststätten-, Betreuungs-, Pflege- und Reinigungstätigkeiten werden unter den Tisch gekehrt. Hierbei geht es vor allem um die praktische Umsetzung der europäischen und nationalen Gesetzgebung zur Verhinderung von Lohn- und Sozialdumping. Hilfreich wäre, wenn die CSU ihre Initiativen zum Europawahlkampf auf diese hausgemachten Probleme und ihrer Behebung in Gesetzgebung und Praxis legen würde. Natürlich ist es notwendig, dass die entsprechende Unterstützung auch aus der EU Kommission dazu geleistet wird. Schließlich handelt es sich hierbei um grenzüberschreitende Vorgänge und Probleme, die eine gesetzliche, rechtliche und praktische Flankierung durch die EU erfordert. Darüber hinaus ist es dringend erforderlich, die Kommunen mit den größten Zuwanderungen erheblich mehr zu unterstützen. Hierbei handelt es sich häufig um solche Großstädte mit erheblichen wirtschaftlichen Strukturproblemen, wie Duisburg, Dortmund oder Berlin, in denen die Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch und die öffentliche Infrastruktur sowie sonstige Leistungen völlig überfordert sind.

Soziale Verantwortungslosigkeit der EU Finanzpolitik

Darüber hinaus ist es dringend erforderlich, die unsozialen Folgen der rigorosen EU Sparpolitik zu Lasten der Menschen vor allem in den Krisenländern, der Perspektivlosigkeit für Millionen junger Menschen sowie den fortschreitenden Sozialabbau auch in der Bundesrepublik in den Mittelpunkt des Europawahlkampfes zu rücken.

Das am 1.1.2013 in Kraft getretene Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags der EU ist ein weiterer Meilenstein für die gravierenden wirtschafts- und sozialpolitischen Defizite in der EU. Einerseits  werden die finanziellen Lasten der Steuerzahler für die Rettung des  Euro und der Banken stetig nach oben geschraubt. Andererseits werden die Menschen in den Krisenländern durch rigorose soziale Kürzungsmaßnahmen in Armut und Elend getrieben. Auch die Bundesbürger werden gleich von zwei Seiten in die Zange genommen: Die Verschärfung und Vorziehung der Schuldenbremsen im Grundgesetz werden zu rigorosen Einsparungen der öffentlichen Haushalte genutzt. Abbau und Privatisierung lebenswichtiger öffentlicher Güter und Dienstleistungen in den Kommunen sowie der Sozialversicherungen schreiten voran.

Einschränkungen öffentlicher Investitionen und Leistungen

Nach dem EU Fiskalpakt darf das gesamtstaatliche Defizit ab 2014 nur noch 13 Mrd. Euro betragen. Zwei Drittel davon sind bereits für die Erhöhung der Verschuldung des Bundes vorgesehen. Die Kommunen würden somit zu einer finanziellen „Vollbremsung“ ihrer so genannten freiwilligen Ausgaben gezwungen sein. Dies würde in voller Wucht auch Berlin treffen. Gefährdet sind vor allem die sogenannten freiwilligen kommunalen Ausgaben für Schulen, Kitas, Bibliotheken, Schwimmbäder, Sportanlagen, Museen, Theater, Volkshochschulen, Straßenreinigung. Die finanziellen Spielräume und Möglichkeiten für die dringend erforderlichen öffentlichen Investitionen und Leistungen werden weiter eingeschränkt. Besonders kritisch sind dies Kürzungsvorgaben auch für den sozialen Wohnungsbau, den Gesundheits- und Pflegebereich, das gesamte Erziehungs- und Bildungswesen. Der seit Jahren zunehmende Nachholbedarf bei öffentlichen Investitionen auch im europäischen Vergleich wird zu Lasten der Bürger weiter zunehmen.

Der Paritätische Gesamtverband hat gerade einer Studie den Gesamtbedarf öffentlicher Ausgaben zur Erhaltung des Sozialstaates für die Jahre 2014 bis 2017 auf insgesamt knapp 142 Mrd. Euro – mithin durchschnittlich 35,5 Mrd. Euro pro Jahr – geschätzt. Einbezogen sind hierbei die Ausgaben für das Soziale Existenzminimum, die Integration von Langzeitarbeitslosen einschließlich der Jugendlichen ohne Berufsabschluss, bezahlbare Wohn- und Nebenkosten; Bildung und Jugendarbeit, Gesundheit, Pflege, Inklusion von Menschen mit Behinderungen und Integration bei Migrationshintergrund.

Abbau Sozialer Sicherung

Wenn der Bund seine Schuldenobergrenze ab 2014 von 0,35 Prozent des BIP voll ausschöpft, was infolge der unübersehbaren finanziellen Haftung für nationale und europäische Banken zu erwarten ist, bleiben für die Kommunen und Sozialversicherungen nur insgesamt 0,15 Prozent übrig. Das sind gerade einmal etwa 4 Mrd. Euro. Die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung haben zwar derzeit infolge der guten Entwicklung der Beschäftigung und der Tariflöhne mit jeweils etwa 30 Mrd. Euro erhebliche Überschüsse. Diese werden aber schnell zusammenschmelzen, da die Bundesregierung bereits seit Jahren in die Taschen der Beitragszahler greift und ihre Bundeszuschüsse um bereits je  2 Mrd. Euro im Jahr für die Kranken- und Rentenversicherung reduziert.

Für die gesetzliche Rentenversicherung ist zu erwarten, dass diese erzwungenen Kürzungen bereits in den nächsten Jahren dazu führen werden, dass infolge der Aufzehrung der Finanzreserven eine erneute Diskussion um Beitragserhöhungen erfolgen wird. Dies würde weiter verschärft, wenn die von der GroKo vereinbarten Verbesserungen der Mütterrenten und der Arbeitnehmer ab 63 mit 45 Beitragsjahren aus Beiträgen und nicht – wie erforderlich – aus Bundessteuern erfolgen. Nach leidvollen Erfahrungen mit derartigen finanziellen Achterbahnen in der Sozialversicherung und unter dem Kürzungsdiktat des EU Fiskalpaktes sind dann weitere Leistungseinschränkungen bei den Alters- und Erwerbsminderungsrenten zu erwarten. Die selbst in amtlichen Analysen und Prognosen für die nächsten Jahrzehnte erwartete massenhafte Altersarmut wird verschärft. Eine ähnliche Entwicklung ist auch für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung zu erwarten. Dies würde die Menschen in Berlin mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil der Armutsrenten besonders hart treffen.

Ein weiterer mittelbarer Konsolidierungsdruck könnte in der gesetzlichen Rentenversicherung und vor allem der auf Sachleistungen beruhenden gesetzlichen Krankenversicherung entstehen, wenn die Empfehlungen der Europäischen Kommission für die Verbesserung der Finanzsituation der öffentlichen Haushalte in Deutschland umgesetzt und die Mehrwertsteuerbefreiung für öffentliche Einrichtungen gestrichen werden. Der zusätzliche Kostendruck kann dann nicht mehr durch Bundeszuschüsse ausgeglichen werden. Die Folge sind ein Anstieg der Beiträge oder die weitere Kürzung von Leistungen mit den bekannten kontraktilen Wirkungen auf die Beschäftigung und die Zunahme der Arbeitslosigkeit.

Der mit dem Hebel des EU Fiskalpaktes durchgesetzte Sozialabbau wird die wirtschaftliche Entwicklung und Beschäftigung einschränken, zu höherer Arbeitslosigkeit und damit auch einer größeren finanziellen Belastung der Arbeitslosenversicherung sowie des ALG II Systems führen. Seit 2010 muss die BA die größten Kürzungsbeiträge der Sozialversicherungen zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes erbringen. Es ist zu befürchten, dass – wenn die Schuldenbremsen nach dem EU Fiskalpakt ihre Wirkung entfalten – zusätzliche Leistungskürzungen im Bereich der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung und Arbeitsmarktpolitik vorgenommen werden. Davon betroffen sind insbesondere die benachteiligten schwer vermittelbaren Menschen wie gering Qualifizierte, ältere, behinderte und schwerbehinderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Bundesleistungsgesetz gegen die Menschen mit Behinderungen

Für die Zustimmung der Länder zum EU Fiskalpakt hat die Bundesregierung ihre Bereitschaft erklärt, in der nächsten Legislaturperiode ein neues Bundesleistungsgesetz zu verabschieden. Damit sollen die rechtlichen Vorschriften zur Eingliederungshilfe für behinderte Menschen in der bisherigen Form abgelöst werden. Allerdings ist ungeklärt, in welcher Form und vor allem Finanzierung dies erfolgen soll. Die Kommunen bestehen auf einer weitgehenden Übernahme ihrer in den letzten 15 Jahren um das Doppelte auf annähernd 14 Mrd. Euro gestiegenen Ausgaben für die Eingliederungshilfen. Vor dem Hintergrund der Spar- und Kürzungszwänge von Bund, Ländern und Gemeinden ist zu befürchten, dass die Leistungen gerade für die sozial Schwächsten in unserer Gesellschaft eingeschränkt werden.

Ein Bundesleistungsgesetz darf daher nicht unter finanzpolitischen Zwängen von Bund, Ländern und Gemeinden unter dem Spar-Diktat des EU Fiskalpaktes konzipiert werden. Vielmehr sind die Vorgaben der UN Behindertenrechtskonvention zu beachten. Dies bedingt eine größere Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit der Eingliederungshilfen, die Stärkung der Wahlrechte auch bei Zugang, beruflicher Entwicklung, Übergang in den regulären Arbeitsmarkt und Rückkehr in die Werkstätten für junge Menschen mit Behinderungen.

Schlussfolgerungen

Eine der wesentlichen Herausforderungen für den bereits begonnenen EU Wahlkampf ist: Anstelle Demagogie und Stammtisch gegen Armutszuwanderungen aus Bulgarien und Rumänien – kein weiterer Sozialabbau unter dem Diktat des EU Fiskalpaktes. Stattdessen müssen die öffentlichen Investitionen und Leistungen wieder kontinuierlich steigen. Der Sozialabbau in der Sozialen Sicherung ist zu beenden. Die Mehrwertsteuerbefreiung für öffentliche Einrichtungen darf nicht gestrichen werden. Prekäre Beschäftigung, Niedriglöhne und Armut müssen abgebaut werden. Erforderlich sind ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro in der Stunde und ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor mit tariflichen Bedingungen und sozialer Sicherung. Der Arbeitsmarkt ist wieder stärker zu regulieren. Wettbewerbsvorteile, die zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Arbeitslosen und sonstiger sozial benachteiligter Personengruppen in der Bundesrepublik gehen und die Wettbewerbsnachteile sowie die Arbeits- und Lebensbedingungen für viele Menschen in den Euro-Krisenländern weiter verschärfen, sind abzubauen. Vor allem müssen die Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit und  teilweise dramatischen Jugendarbeitslosigkeit in den Mittelpunkt des Europa-Wahlkampfes gerückt werden.

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